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"Für mich zeigt dieses Beispiel,
      dass es für die Verbesserung des Verhältnisses
         von Wissenschaft und Gesellschaft nur
      eine erfolgversprechende Initiative gibt:
                  Fangt bei den Kindern an! "
         Prof. Dr. Wolfgang Frühwald
Interview: Prof. Dr. Frühwald. Zum Verhältnis von Geistes- und Naturwissenschaften in der heutigen Forschungslandschaft Deutschlands
Ein Gespräch von Dr. Sybe Izaak Rispens und Prof. Dr. Wolfgang Frühwald, von 1992-97 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Wissenschaft und Gesellschaft
"Auf die Frage nach der Bedeutung der Geisteswissenschaften innerhalb der Gesellschaft gibt es die unterschiedlichsten Antworten. Die einen meinen, die Geisteswissenschaften seien in der Lage, die im Prozess von Rationalisierung und Modernisierung auftretenden Schäden zu kompensieren; andere schließen aus der Entstehung der Geisteswissenschaften im 18. Jahrhundert darauf, dass sie „Aufklärungswissenschaften” sind, wieder andere meinen, die Geisteswissenschaften erhalten ihren Zweck durch ihre (scheinbare) Nutzlosigkeit, da sie Phantasie und Ideenfülle fördern.
   Von alledem steckt etwas in den Geisteswissenschaften. Allerdings leuchtet mir am stärksten die These ein, dass moderne Gesellschaften ein Bewusstsein von sich selbst entwickeln müssen. Dieses Bewusstsein von sich selbst, so zeigt Jürgen Mittelstraß zum Beispiel eindrucksvoll, verschaffen ihnen die Geisteswissenschaften.
   Wenn ich sehe, dass die Natur- und Lebenswissenschaften derzeit ihre einst starken historischen Teilfächer abstossen, dann finde ich es umso nötiger, dass die verlorengehende Selbstreflexion der Wissenschaften und der Gesellschaft einen prominenten Ort in den Geisteswissenschaften behält. Dies betrifft nicht nur Deutschland. Denn schon immer war Europa die Heimat der Geisteswissenschaften in ihrer ganzen Fülle. Neben der Selbstreflexion also erzeugen und bewahren die Geisteswissenschaften europäisches Bewusstsein.“
   
Sprache
”Ein Wesensmerkmal der Geisteswissenschaften ist es, dass ihr bevorzugtes Arbeitsmittel die Sprache ist. Damit kommt es ihnen auf das Individuum an, das dieses Instrument verwendet. Dies nämlich unterscheidet die Geisteswissenschaften von den Natur- und Ingenieurwissenschaften am stärksten, dass sie in abstrahierenden Formeln nicht denken und nicht kommunizieren können. Eine Mathematisierung der Geisteswissenschaften wäre das Ende ihrer Differenzqualität und damit das Ende dieser Wissenschaften.
   Wer aber die Sprache beherrscht, pflegt und als Mittel der Verständigung handhabt, wird keine Schwierigkeiten haben, auch öffentlich anerkannt zu werden. Der große Erfolg guter, auf das Wort gestellter, geisteswissenschaftlicher Vorlesungen zeigt mir immer wieder, wie wichtig es ist, die Sprache als Instrument des Denkens und des Forschens pfleglich zu behandeln und weiter zu entwickeln. Ich habe in den letzten Jahren meiner aktiven Zeit als Professor wöchentlich vor mehr als 500 jungen und alten Hörerinnen und Hörern Vorlesungen gehalten und war immer wieder überrascht, mit welcher Konzentration und Wissensfreude diese Hörer an einer im Grunde altmodischen Kommunikationsform teilgenommen haben..
   Somit scheint mir die Behauptung, dass die Geisteswissenschaften weniger öffentliches Interesse wecken als die Naturwissenschaften nicht zu stimmen. Die Probleme des Tourismus, der Migration, unser Verhältnis zu den europäischen Nachbarn, zu den Menschen in fernen Ländern, unsere Bilder von ihnen und uns selbst sind auf geisteswissenschaftliche Lösungs- und Deutungsversuche angewiesen und wandeln sich mit den Erkenntnissen der Geisteswissenschaften.
   Heute werden diese Erkenntnisse oft nicht mehr als „wissenschaftlich“ empfunden! Bei ”wissenschaftlich“ denken wir eher an den rasanten Fortschritt der experimentellen Wissenschaften. Damit kommt es zu einer Verengung der Begriffe „Wissenschaft” und „Forschung“: wir denken dabei zunehmend ausschließlich an experimentell erworbenes Fortschrittswissen. Ich halte das für eine bedrohliche Entwicklung. Denn sie könnte dazu führen, dass die Geistes- und Gesellschaftsgeschichte von den Forschungsidealen der modernen Wissenschaft getrennt, und so von Ideologien bestimmt wird.”
   
Explodierende Erkenntniswelten
“So wie es eine Verengung in den Begriffen Wissenschaft und Forschung gibt, gibt es auch einen gravierenden Wandel innerhalb des Bildungsbegriffes: weg vom historisch-philologischen Bildungswissen hin zu eher naturwissenschaftlich geprägtem Wissen.
   Die „Bildung” und die „Gebildeten“ vollziehen damit nur nach, was die Entwicklung des Wissens längst vorgemacht hat. Viele von uns denken und leben noch in den Kategorien des frühen 20. Jahrhunderts, während die experimentellen Wissenschaften im Planen und in ihren Visionen schon ins 22. Jahrhundert vorausgeeilt sind. Die philosophische Grundfrage der Zeit ist meines Erachtens die nach der Verantwortung des menschlichen Könnens, nach der Begrenzung, nicht nach der Ausweitung seiner Macht, nach der Möglichkeit, die Zeiten des Irrtums (oder wenigstens der Reflexion) an die Entwicklungsbeschleunigung heranzuführen.
   Es ist aber ein Kennzeichen unserer explodierenden Erkenntniswelten, dass eine philosophisch arbeitende Naturwissenschaft eher mit Lächeln betrachtet wird. Man meint, die Philosophie sei eine Altersbeschäftigung jener Forscherinnen und Forscher, die im Fach selbst im Wettbewerb nicht mehr mithalten können.
   So gibt es eine vornehme und im besten Falle nachsichtige Duldung von Philosophie bei den „harten” Wissenschaften, die Leidenschaft philosophischen Denkens innerhalb der Naturwissenschaften ist selten geworden. Wo soll der eine große, weltverändernde Gedanke auch herkommen, wenn ich alle Hände voll damit zu tun habe, ein Experiment zu organisieren, an dem hunderte Einzelpersonen teilnehmen?
   In den Naturwissenschaften dominiert die Arbeitsgruppe, das Team, in das die Professoren eingebunden sind, Ohne dieses Team können die Forscher nicht arbeiten – und die Arbeitssprache dieses Teams ist bevorzugt die Formel, die abstrahierende Sprache, nicht die sprachliche Nuance. Deshalb ist es auch gleichgültig, ob am Arbeitsplatz Deutsch oder Englisch gesprochen wird, und da nach Möglichkeit alle verstehen sollen, worum es bei der Arbeit geht, hat sich das Englische (ein stark reduziertes Arbeitsenglisch) als lingua franca durchgesetzt. Die Vorlesungen sind im Turnus immer die gleichen, sie gelten der Einführung, der Zusammenfassung, nicht, wie in den Geisteswissenschaften, der vorläufigen, universitätsinternen Veröffentlichung von Forschungsergebnissen. Insofern gibt es bei den Naturwissenschaften auch eine ganz andere Antrags- und Forschungskultur, in der Arbeitsgruppen und nicht Einzelne miteinander konkurrieren. “

Forschungspolitik
”Vermutlich wäre ich nie zum Präsidenten der Alexander von Humboldt-Stiftung gewählt worden, wenn ich nicht vorher sechs Jahre lang Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft gewesen wäre. In diesen sechs Jahren haben offenkundig Physiker, Chemiker, Biologen, Mediziner etc. bemerkt, dass sie auch eine solche Präsidentschaft ohne große Schäden überstehen können.
   Doch im Ernst: Für die Natur- und Lebenswissenschaften war ich (wie die Mehrzahl der Geisteswissenschaftler) mit finanziell eher geringen Forschungsbedürfnissen kein Konkurrent. Ich wurde also bei der DFG und bei der Humboldt-Stiftung freundschaftlich und kollegial aufgenommen und behandelt und selbst bei abweichenden Meinungen ernst genommen. Ich selbst habe in beiden Organisationen durch die Innensicht unterschiedlichster Fächer und Disziplinen ungemein viel über die notwendige Differenzierung der Denkweisen gelernt, und vor allem gelernt zu unterscheiden, wo eine solche Differenzierung sich notwendig aus der Struktur der Fächer ergibt und wo sie bloße Gewohnheit ist.
   Insgesamt habe ich in den letzten Jahren einige große Fortschritte in der Wahrnehmung der Wissenschaft durch die Politik erleben können. In Deutschland versuchen wir es derzeit den kleineren Nationen (etwa Skandinaviens) nachzutun, konsequent in Bildung und Forschung zu investieren. Immerhin werden seit dem Bundeshaushalt 2007 Ausgaben für Forschung, Entwicklung, Bildung und Familienförderung als “Zukunftsausgaben” anerkannt. Wobei wir freilich noch nicht wissen, ob diese neue Tendenz auch in den kommenden Krisenzeiten standhalten wird. Denn bei Einsparungen sollte nicht (wie bisher stets) zuerst auf Bildung, Forschung und Familienförderung zugegriffen werden!
   Wir haben heute eine Deutsche Nationalakademie mit der Aufgabe der langfristigen Politikberatung (und der Auslandsvertretung der deutschen Wissenschaft), wir haben überdimensionale Steigerungsraten der Forschungsausgaben im Bundesetat, wir entwickeln gerade eine Außenwissenschaftspolitik etc, nur die deutsche Industrie hält bei der Steigerung der Forschungsausgaben noch nicht mit. Trotzdem müssen wir nicht mehr mit Neid auf die USA sehen. Die Politik und die Politiker suchen allenthalben das Gespräch mit der Wissenschaft. Wenn dieses Gespräch nicht so reibungslos verläuft wie es sein sollte, so liegt dies auch am Misstrauen der großen Forschungsorganisationen und der Universitäten untereinander. Die Wissenschaft spricht in Deutschland nicht mit einer Stimme, nicht einmal mit zwei oder drei Stimmen, sondern laut - und öfters noch leise - mit vielen sich überkreuzenden und damit letztlich nicht verständlichen Stimmen.“

Europa
”Wenn ich auf die zwei Jahrzehnte nach der Wende zurückschaue, dann bin ich der Meinung, dass der Versuch, einen einheitlichen deutschen Wissenschaftsraum herzustellen, gelungen ist.
   Wir sollten bedenken: Wir haben eine Physikerin aus den neuen Ländern als Bundeskanzlerin. Dies ist meines Erachtens ein weithin sichtbares Zeichen für die gelungene Ost-West-Integration. In den neuen Bundesländern ist eine international leistungsfähige Forschungs- und Bildungslandschaft entstanden, die sich selbstbewusst mit den alten Bundesländern messen kann. Fehler wurden sicher bei der Personalüberprüfung gemacht. Hier sind Verletzungen geschehen, die meist aus finanziellen Gründen nicht korrigiert und somit in Kauf genommen wurden. Bei den außeruniversitären Forschungsinstituten ist ein ähnlicher Entwicklungsschaden aufgetreten. Da die neuen Bundesländer nicht in der Lage waren, die große Zahl erhaltenswerter Institute der ehemaligen Akademie der Wissenschaften der DDR zu übernehmen, wurde die heutige Leibnizgemeinschaft mit Instituten angereichert, die im Grunde ihre Heimat in den Universitäten haben. Ein solcher Entwicklungsfehler ist schwer wieder zu beheben, zumal diese Institute außeruniversitär sehr gut arbeiten. Aber der Entwicklung der Universitäten schadet dies. Sie sind das organisierende Zentrum des Wissens.
   Dennoch: Wenn uns die Herstellung eines europäischen Forschungsraumes nur halb so gut gelingt, wie die des gesamtdeutschen, könnten wir uns freuen. Wir sollten die Erfahrungen aus dem deutschen Einigungsprozess für die europäischen Integrationsaufgaben nutzen. Denn unsere Erfahrungen zeigen, dass durch Bildung, Forschung und Entwicklung die Integration unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen am besten gelingt.“

Exellenzinitiativen
”Ich habe soeben mitgeholfen, einen wunderschönen Neubau der Hochschule für Musik auf dem Campus der Universität Mainz einzuweihen. Solche Ereignisse werden über dem auf die deutschen Universitäten niedergehenden Geldsegen leicht übersehen. Aber auf Dauer sind sie mindestens ebenso wichtig wie die Exzellenzinitiative.
   Bei dieser Initiative wird meist nur von den 1,9 Milliarden € für die Universitäten gesprochen, aber es kommen 3,3 Milliarden € für die großen Forschungsorganisationen hinzu. Auch hat die Exzellenzinitiative den Charakter eines Stimulus, denn die Länder, die bei der Exzellenzinitiative nicht erfolgreich waren, versuchen derzeit alles, um ihre Universitäten so auszustatten, dass diese bei einer neuen Runde der Initiative punkten können.
   Was die bisher entstandenen privaten Universitäten in Deutschland betrifft, so finde ich, dass es sich dabei nur um eine schwache Ergänzung des insgesamt starken und dichten Netzes staatlicher Hochschulen handelt. Doch profitieren die staatlichen Hochschulen von den Privatinitiativen enorm. Die Jacobs Foundation z. B. hat die Internationale Universität Bremen mit einer 200 Millionen Euro-Spende vor der Insolvenz gerettet und ermöglicht, dass die gute wissenschaftliche Arbeit dort fortgesetzt warden konnte. Seitem sind die Spenden auch für andere Universitäten und Institute sprunghaft angestiegen. Beispiele: die Gründung eines neurowissenschaftlichen Zentrums an der Universität Tübingen mit 43 Millionen € durch die Hertiestiftung, 33 Millionen € von einem Einzelspender für die Hirnforschung an die Universität Frankfurt am Main, für Potsdam hat Hasso Plattner inzwischen rund 200 Millionen € gespendet, in München (LMU) wurde soeben mit 100 Millionen € von einem polnischen Spender ein neurologisches Zentrum gegründet, die TU Karlsruhe hat eine Spende in Höhe von 200 Millionen € erhalten, die Spende an die TU Freiberg in Sachsen liegt offenkundig in der gleichen Höhe, etc.

Kinderuniversitäten
“Vor kurzem habe ich in der vierten Klasse einer Eichendorff-Grundschule den Kindern etwas über den Namenspatron ihrer Schule erzählt. Ich sagte, dass Goethe die Eisenbahn skeptisch sah, obwohl er von ihr nur gehört hatte. Zu dem bayerischen König sagte er, bei dieser Art des Reisens sei „der Duft der Pflaume weg”. Klar, sagten die Kindern, wenn ich an einem Pflaumenbaum vorübergehe, rieche ich den Duft seiner Früchte, wenn ich mit der Eisenbahn vorbeifahre, ist deren Duft weg! Ja, meinte ich, Eichendorff aber hat versucht, den Duft der Pflaume zu retten. Wohin hat er ihn wohl gerettet? Und ein kleines Mädchen von neun Jahren antwortete wie aus der Pistole geschossen: „Ins Gedicht!“ Ich bin noch heute ganz fassungslos über diese blitzartige Erkenntnis der inneren Struktur und des Antriebs von Eichendorffs Poesie durch ein Kind.
   Für mich zeigt dieses Beispiel, dass es für die Verbesserung des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft nur eine erfolgversprechende Initiative gibt: Fangt bei den Kindern an! Baut die Kinderuniversitäten, die an vielen Hochschulen schon existieren, kräftig aus! Unterstützt den Erkenntniswillen der Kinder und ihre Freude am Forschen und Suchen und lehrt ihnen Urteilsfähigkeit, das heißt auch, dass sie Verantwortung für ihr Tun übernehmen! Und – umgekehrt – schickt viele Professorinnen und Professoren zu den Kindern in die Schulen, damit die Lehrenden und die Lernenden schon früh wieder zusammenfinden und wir nicht öde Wettbewerbe um die beste Lehre brauchen, die sich von selbst verstehen sollte.”

Herr Frühwald, vielen Dank für dieses Gespräch.


Prof. Dr. Wolfgang Frühwald (1935) studierte 1954-58 Germanistik, Geschichte, Geographie und Philosophie an der LMU München. Nach dem Staatsexamen promovierte er 1961. 1969 folgte die Habilitation im Fach Neuere Deutsche Literaturgeschichte. Von 1970–74 war Frühwald Professor in Trier, seither ist er Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der LMU München. 2003 wurde er emeritiert. 1982-87 war er Mitglied im Wissenschaftsrat, 1989-91 Prorektor der LMU. Von 1999 bis 2007 war er Präsident der Alexander-von-Humboldt-Stiftung und ist heute deren Ehrenpräsident.
Frühwald war von 1992-97 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Er ist Mitglied in- und ausländischer Akademien der Wissenschaften, u.a. der Deutschen Akademie der Naturforscher (Leopoldina) und der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Frühwald war 12 Jahre lang Mitglied im Stiftungsrat des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels und im Jahr 2007 Laudator auf den Preisträger Saul Friedländer. 2000 erhielt er für seine Arbeit den Ehrenring der Görres-Gesellschaft, 2002 den Alfried-Krupp-Wissenschaftspreis. 2005 wurde Frühwald von Bundespräsident Horst Köhler mit dem Großen Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.


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Dieser Text ist erschienen als Teil des Wissenschaftsjahrs 2009, "Forschungsexpedition Wissenschaft", im Auftrag vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.





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last update: 4/12/2009
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