Dieser historische Abriss soll einen Überblick über die Hauptthemen im geteilten und wieder vereinigten Deutschland der vergangenen sechs Jahrzehnte geben.
Zu Beginn werden einige grundlegende Unterschiede im Verhältnis Wissenschaft, Technik und Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik skizziert, um anschließend fünf Themengebiete genauer zu betrachten. Diese waren nicht nur in der Vergangenheit von Bedeutung, sondern sind auch heute noch aktuell und werden in den nächsten Jahrzehnten weiterhin gesellschaftlich prägend bleiben: (1) Energie, (2) Mobilität, (3) Informations- und Telekommunikationstechnik, (4) Gesundheit und (5) Umwelt.
Dargestellt wird dabei nicht nur eine Geschichte von Forschung und Fortschritt, sondern es werden ebenso die Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft, Technik, Mensch und Umwelt aufgezeigt.
Wissenschaft und Gesellschaft in Westund Ostdeutschland
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n den ersten Nachkriegsjahren herrscht im Westen Deutschlands – zumindest im akademischen Bereich – eine deutlich pessimistischere Sichtweise auf den Umgang mit Wissenschaft, Forschung und Technik als in der sowjetisch besetzten Zone.
In der Bundesrepublik sind die Vorstellungen geprägt von einem möglichen Untergang des Menschen an seinen eigenen wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften. Die systematischen Völkermorde des NS-Regimes haben eindringlich gezeigt, dass die Vernichtung ganzer Völker oder gar der gesamten Menschheit möglich ist. „Der Alptraum vieler Menschen,“ so meint Hitlers Rüstungsminister und Technologieberater Albert Speer in den Nürnberger Prozessen von 1946, „daß einmal die Völker durch die Technik beherrscht werden könnten, [...] war im autoritären System Hitlers nahezu verwirklicht“.
Diese unmittelbaren Kriegserfahrungen vermischen sich einerseits mit der Vorstellung, dass die Menschheit durch die Atombombe die Macht besitzt, sich selbst das Ende zu bereiten und andererseits mit der allgemeinen düsteren Vorahnung, dass die Menschheit letztendlich an der Verwegenheit ihres ungestümen Strebens nach technischem Fortschritt zugrunde gehen werde.
Viele deutsche Natur- und Geisteswissenschaftler stellen sich die „Frage nach der Technik“. In ihrer konkreten Form läuft sie auf folgendes hinaus: Ist es möglich, Wissenschaft und Technik im Allgemeinen und das Wissen um die Atomtechnik im Besonderen für zivile Zwecke zu verwenden, ohne dabei die Apokalypse herauf zu beschwören?
Damit ist das Wissen aus Physik und Lebenswissenschaften in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Diskurses gerückt. Die Dämonisierung von Technik und Wissenschaft ist zunächst ein spezifisch westdeutsches Phänomen der Nachkriegszeit: Sie lässt sich in unterschiedlichen Ausprägungen wiederfinden in den Werken von Physikern wie Max Born, Otto Hahn und Carl Friedrich von Weizsäcker. Auch Denker wie Karl Jaspers, Martin Heidegger, Oswald Spengler, Hans Jonas und Arnold Gehlen widmen sich ausführlich der Thematik des „von Menschen Hervorgebrachten und doch Ungewollten“. Schriftsteller wie Arthur Koestler oder Robert Jungk warnen in der unmittelbaren Nachkriegszeit ebenfalls nachdrücklich vor den neuen Gefahren der – militärischen – Technik. Und selbst in der populären Kultur ist bis in die späten sechziger Jahre ein auffälliger Kontrast zu den Siegermächten zu beobachten: Während in den USA die Faszination durch die avancierte Technik in Zukunftsromanen und Science Fiction gefeiert wird, fehlt in der Bundesrepublik das Interesse an diesen Kunstformen nahezu völlig.
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m Osten Deutschlands findet sich der Pessimismus über Wissenschaft und Technik nicht wieder. Vor allem in den offiziellen Darstellungen ist das Gegenteil der Fall, in Form einer Wissenschafts- und Technikgläubigkeit als Lösungsweg für den Wiederaufbau und als Mittel zur „weiteren Erhöhung des sozialistischen Bewusstseins“.
Abgesehen von der marxistisch-leninistischen Ideologie, die mit der sowjetischen Besatzung einhergeht, mag diese positive Bewertung auch eine Reaktion darauf sein, dass in der DDR die Reparationen an die Sowjetunion existentiell bedrohliche Formen annehmen – 1946 betragen sie fast die Hälfte des gesamten Bruttoinlandsprodukts. Dramatisch ist ebenso die Demontage ganzer Industrieausrüstungen und Forschungsanlagen sowie die Deportation kompletter Forscherteams mitsamt technischer Belegschaften in die Sowjetunion. Außerdem ist die Deutsche Demokratische Republik mit sehr viel geringeren Rohstoffvorkommen ausgestattet als die Bundesrepublik.
In der DDR versucht man diese enormen Schwierigkeiten durch eine industrielle Umorientierung zu kompensieren. Man träumt davon, durch Technologie wieder eine Großmacht zu werden. Im Osten Deutschlands werden deshalb bald nach dem Krieg bereits erheblich mehr Ingenieure im Verhältnis zur Bevölkerungszahl ausgebildet als in der Bundesrepublik – Frauen ebenso wie Männer. Als der erfolgreiche sowjetische Start des „Sputnik“ die westliche Welt 1956 in einen „Sputnik-Schock“ versetzt, glaubt man, dass der Osten den Westen auf lange Sicht in Forschung und Technik überflügeln werde.
Auffällig ist, dass im Osten auch viele kluge und kritische Geister von der Euphorie für Forschung und Technik mitgerissen wurden. Es erscheinen Dutzende von Sachbüchern, in denen mit der kulturpessimistischen – „bürgerlichen“ – Sichtweise der Bundesrepublik auf Wissenschaft und Technik abgerechnet wird. So beschreibt die Schriftstellerin Christa Wolf in ihrem Roman „Der geteilte Himmel“ (1963) den Start des „Sputnik“ als einen Wendepunkt der Zeiten. Die Raumfahrt bekräftigt den Glauben an ein unbegrenztes industrielles Wachstum. Viele ostdeutsche Naturund Geisteswissenschaftler teilen die Auffassung des sowjetischen Nobelpreisträgers für Chemie, Nikolaj Nikolajewitsch Semjonow, der in seinem Buch über d en gesellschaftlichen Fortschritt von 1965 meint: „[Die Völker der Zukunft] werden zu jener Zeit über Möglichkeiten für eine unbegrenzte Energiegewinnung verfügen und sich den unendlichen kosmischen Raum innerhalb und jenseits der Grenzen unseres Sonnensystems erobern.“
Diese unterschiedlichen Auffassungen über Wissenschaft, Technik und Gesellschaft prägen die späteren Entwicklungen in Westund Ostdeutschland, wie aus dem Folgenden hervorgeht.
1. Energie
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or den unterschiedlichen gesellschaftlichen Hintergründen entwickelt sich sowohl im Westen als auch im Osten Deutschlands nach dem Krieg eine Art „Ideologie des Überlebens“. Der bittere Alltag der Nachkriegszeit stellt die Notwendigkeit des Wiederaufbaus in den Vordergrund. Nicht nur im Osten, auch in Westdeutschland sieht es wirtschaftlich düster aus: 1950 erreicht die Arbeitslosigkeit mit über zehn Prozent der Arbeitnehmer ihren Höhepunkt.
Eines der ersten großen Themen der Zeit ist die Energieversorgung. 1950 ist Kohle noch der unangefochtene Energieträger in Deutschland. Die chemische Industrie ist vollständig auf Kohle angewiesen, die Stromproduktion sowie die Raumbeheizung finden fast ausschließlich mit Kohle statt. Mitte der fünfziger Jahre aber fallen die Preise von Heizöl geradezu dramatisch, worauf in den meisten Anwendungsbereichen Kohle durch Öl verdrängt wird. Die Deutsche Kohle- und Bergbauindustrie gerät in eine Dauerkrise.
Gerade als es ein Überangebot an billiger Kohle gibt, wird die Kernenergie vorangetrieben als „unerschöpflicher, preiswerter und sauberer“ Energieträger. Dabei wird in der Atomkraft viel mehr gesehen als eine Lösung für die Energiepolitik. Sie ist eine Zukunftstechnologie: eine Form von „Big Science“, die keine moderne Industrienation an sich vorbeigehen lassen kann. Man hält es für wahrscheinlich, dass dank der neuen Energiequellen auf Grundlage der Atomkraft die Energiekosten im Vergleich zu anderen Energiequellen beträchtlich gesenkt werden könnten: die „Energierevolution“ wird erwartet.
Kurz nachdem 1955 in den Pariser Verträgen die Kernphysik in der Bundesrepublik von den Alliierten wieder zugelassen wird, kommt es zur Gründung eines „Atomministeriums“. Dieser Vorläufer des heutigen Ministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) trägt dazu bei, dass umfangreiche staatliche Mittel in die Entwicklung und Produktion eigener Kernreaktortypen fließen. Die Atompolitik und die bundesdeutsche Reaktorentwicklung werden als der Wettbewerbsfaktor schlechthin der deutschen Industrie und Forschung auf dem Weltmarkt angesehen. „Wenn wir“, so meinte Atomminister Siegfried Balke 1959, „keine Kernkraftwerke anzubieten haben, werden wir eines Tages auch keine Staubsauger mehr verkaufen können“.
Am 30. Oktober 1957 wird in den Isarauen bei Garching am nördlichen Stadtrand von München der erste Kernreaktor der Bundesrepublik in Betrieb genommen. Der Forschungsreaktor wird nach den Plänen von Adenauers Atomberater, dem herausragenden Repräsentanten der deutschen Kernphysiker, Werner Heisenberg, erstellt. Insgesamt versucht man so nahtlos wie möglich an die deutsche Kernforschung während des Zweiten Weltkriegs anzuschließen. Es wird ein eigenes Reaktorkonzept entwickelt, der so genannte „schwerwasser-moderierte Natururan-Reaktor“.
Allerdings braucht es einen erheblichen Technologietransfer von US- amerikanischen Firmen, bevor in den sechziger Jahren die ersten deutschen Reaktoren in Betrieb genommen werden können. Der „deutsche Weg“ zu einem eigenen Atomprogramm erweist sich jedoch als schwieriger als erwartet: Die Technik ist kompliziert, es werden erhebliche Planungsfehler beim Bau der ersten Reaktoren gemacht und der angedachte Preisvorteil von Natururan stellt sich als Irrtum heraus. Auch gibt es in der Bundesrepublik seit den siebziger Jahren eine breite Oppositionsbewegung gegen Kernkraftwerke, die stärker ist als irgendwo anders auf der Welt. Wer im Nachhinein die Energie-Statistiken anschaut, wird feststellen müssen, dass die Kernenergie nicht so bedeutsam für die Energieversorgung war, wie vom öffentlichen Diskurs her zu erwarten gewesen wäre.
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m Osten wird das Thema Energie, genauso wie im Westen, eher aus politischem Prestigestreben als aus wirtschaftlicher Notwendigkeit großgeschrieben. Unter der Leitung erfahrener, nach etwa zehnjähriger „Spezialistentätigkeit“ aus der Sowjetunion heimgekehrter Wissenschaftler, wie Heinz Barwich, Werner Hartmann und Gustav Hertz, beginnt 1956 die Forschungsund Entwicklungsarbeit. Das Kernkraftwerk Rheinsberg wird in Auftrag gegeben: Damit ist die DDR der westdeutschen Atomwirtschaft um Jahre voraus – allerdings nur auf dem Papier. Die DDR beginnt mit großem Elan mit dem Aufbau von Zukunftstechnologien.
Ebenfalls 1956 wird der mit Abstand größte Braunkohleveredlungskomplex der Welt errichtet: das Kombinat „Schwarze Pumpe“. In einer geplanten Zukunft eines sozialistischen Staates, so glaubt man, lässt sich „Big Science“ besser umsetzen.
Allerdings fehlt in der DDR die den Westen stützende Hilfe durch die USA und Großbritannien. Auch gibt es bis zum Mauerbau 1961 eine anschwellende Fluchtwelle von Fachkräften in den Westen. Die geistigen und finanziellen Ressourcen des Kernforschungszentrums Dresden-Rossendorf – unter Leitung des einstigen deutsch-britischen Atomspions Klaus Fuchs brechen Anfang der sechziger Jahre praktisch von heute auf morgen so ein, dass der DDR eine eigenständige Reaktorund Brüterentwicklung nicht mehr gelingen kann. Nachdem deutlich wird, dass der Rückstand auf die Bundesrepublik nicht mehr aufzuholen ist, wird die Energiepropaganda auf den Tenor eingestimmt, dass durch die heimische Braunkohle gar keine Energielücke vorhanden ist und dass die Entwicklung der Kernenergie auf Kosten des Lebensstandards der Bevölkerung gehen wird – im Nachhinein eine realistische Einschätzung. Denn auch in der Bundesrepublik wurde die Entwicklung eigenständiger Reaktorprojekte auf Dauer nicht durchgehalten.
Erst Anfang der siebziger Jahre kann die DDR mit Reaktoren sowjetischer Bauart in das Atomzeitalter eintreten: Nahe Greifswald werden zwischen 1968 und 1979 vier Reaktorblöcke in Betrieb genommen, die etwa zehn Prozent des Strombedarfs der DDR abdecken. Durch Mängel hinsichtlich Qualität und Modernität stellen sich Fehler heraus, die sicherheitstechnische Probleme verursachen: Bereits 1975 kommt es zu zwei größeren Unfällen, die längere Stillstände für Reparaturen erfordern.
2. Mobilität
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ie Mobilität in Westdeutschland ist seit 1949, neben dem Ausbau und der Elektrifizierung der Bahnstrecken, vor allem gekennzeichnet durch den boomenden Individualverkehr. Aus dem Touristen entsteht der „automobile“ Mensch. Der wachsende Reichtum der Bundesrepublik steht in direkter Relation zur Mobilität ihrer Bürgerinnen und Bürger, ihres schnellen Warentransports und des grenzüberschreitenden Verkehrs. Dabei steht das Volkswagen-Modell „Käfer“ für einen der größten industriellen Erfolge der Bundesrepublik. Das ist bemerkenswert. Denn als die Briten 1945 in der „nationalsozialistischen Musterstadt“ Wolfsburg ein schwer zerstörtes Volkswagenwerk von den Amerikanern übernehmen, finden sie den unter Hitler KdF-Wagen (Kraft durch Freude-Wagen) genannten, aber nie zivil ausgelieferten Wagen technisch nicht überzeugend. Um aber der Gefahr der Demontage durch die nahen russischen Truppen vorzubeugen, wird die Produktion rasch wieder angekurbelt. Unterstützt vom MarshallPlan, der kreativen Synthese aus amerikanischen Einflüssen und deutschen Traditionen und die Einbindung in das westliche Bündnisund Wirtschaftssystem wird die Bundesrepublik fast zwanzig Jahre lang stärkster Autoexporteur der Welt. Der VW-Käfer übertrumpft noch das T-Modell von Ford und wird weltweit zum meistgekauften Auto aller Zeiten.
Durch den großen Erfolg der PKW-Industrie bekommt das Auto in Deutschland freie Bahn. Umwälzend ist die Geschichte des Autos nicht so sehr durch die Technik – denn in den Grundelementen verändert sich diese nur wenig – sondern durch die gesellschaftlichen Folgewirkungen der Massenmotorisierung: Das Straßenverkehrsnetz wird umfassend ausgebaut.
In den fünfziger Jahren beginnt das Ideal der „autogerechten Stadt“ zu wirken. Diese Idealisierung geht soweit, dass in West-Berlin die Straßenbahn abgeschafft wird, obwohl sich in dieser zur politischen Insel gewordenen Stadt das Auto am wenigsten lohnt. Auch die in den siebziger Jahren als technologisches Großprojekt geplante Magnetschwebebahn „Transrapid“, mit einer Teststrecke im Emsland, wird nicht zu einer Reduktion des Straßenverkehr genutzt, sondern die Strategie geht dahin, die vom Auto gelassene Nische des gehobenen Personenfernverkehrs auszubauen. Das Projekt wird, neben der Entwicklung der Kernenergie, als Gradmesser für Deutschlands Stellung als „modernes Industrieland“ angesehen.
Aus dem Straßenbau wird eine Prinzipienfrage des geteilten Deutschland. Denn die private Motorisierung ist das Modell schlechthin für eine freie Marktwirtschaft. Quer durch das westdeutsche politische Spektrum wird mit dem Bau von mehr Autobahnen und Umgehungsstraßen geworben.
Auf einer gesellschaftlichen Ebene bewirken die Erfolge der Automobilindustrie ein Umdenken in der Bundesrepublik, es betrifft die Bewertung von Forschung und Technik: Technische Entwicklungen und industrielle Massenfertigung werden zunehmend als Säulen des wirtschaftlichen Aufstiegs gesehen. Das Auto wird zum Symbol des westdeutschen Wohlstands und technischen Fortschritts. Allerdings müssen dafür die gesellschaftlichen Kosten des Autoverkehrs ausgeblendet werden: Im Jahr 1970 sterben in der Bundesrepublik ca. 20.000 Menschen durch den Autoverkehr. Der „Privatautomobilismus“ beeinflusst noch weitere Bereiche der Lebensqualität in der Bundesrepublik: Es vergeht fast kein Tag mehr ohne Lärm und Abgase. Spätestens nach der Erdölverknappung im Winter 1973/74 und dem darauf folgenden Sonntagsfahrverbot wächst in weiten Kreisen der Bevölkerung das Umweltbewusstsein.
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n Ostdeutschland ist infolge der Kriegsschäden, der Demontage und den Knowhow-Verlusten durch Emigration von technischem und kaufmännischem Personal sowie durch das Fehlen von Aufbauhilfe, wie dem Marshall-Plan, nach dem Krieg kein nennenswerter PKW-Bau mehr vorhanden. Dennoch beginnt schon 1946 in Eisenach in den Ruinen eines ehemaligen BMW-Werks die Serienfertigung von Personenkraftwagen Auch in Zwickau wird 1949 in einem ehemaligen Audi-Werk die Produktion wieder aufgenommen. Allerdings wird bis Mitte der fünfziger Jahre ausschließlich für die Übergabe an die Sowjetunion und den Bedarf von Staat und Partei produziert.
Im ersten Fünfjahrplan von 1951 wird zwar die Erfassung sämtlicher für den „volkswirtschaftlichen Produktionsprozess“ wesentlichen Zweige der Wirtschaft proklamiert, aber im PKW-Bau sieht der Plan nur einen Mittelklassewagen vor. Es soll ein großes, repräsentatives Fahrzeug werden, zur Verwendung in gehobenen Dienststellen und für offizielle Auftritte der Staatsführung. An die Entwicklung eines Kleinwagens wird nicht gedacht, denn die individuelle Motorisierung passt, als „Attribut des Kapitalismus“, nicht in das gesellschaftspolitische Konzept der SED.


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Ein Trabant in der ehemaligen DDR, um 1990.
Anfänglich gilt das Auto als modern, da die Karosserie komplett aus Kunststoff gefertigt wird.
Nach der Wende entwickelt sich der "Trabi" geradezu zu einem technischen Fossil, zu einem Symbol für ein gescheitertes System.
Nach dem Volksaufstand in den Tagen um den 17. Juni 1953 wird allerdings umgesteuert, es soll die Produktion von Kraftfahrzeugen für die Bedürfnisse des „werktätigen Menschen“ aufgenommen werden. Die Forschungsarbeiten für den „Trabant P 50“ betreten Neuland, denn die Karosserie soll – wegen der ungenügenden Feinblechversorgung – komplett aus Kunststoff gefertigt werden. Nach verschiedenen gescheiterten Versuchen auf PVC-Basis wird unter enormem Zeitdruck und ohne Zugang zu westlichen Technologien ein Phenolchemie-Pressstoff entwickelt. Das Material, „Duroplast“ genannt, lässt sich aus der heimischen Braunkohle herstellen. Als Füllmaterial dienen Baumwollabfälle, die, zu einem Faservlies verarbeitet, dem Harz die gewünschte Stärke gibt. Das Herstellungsverfahren lässt sich relativ einfach mechanisieren und kann ohne Zulieferung aus kapitalistischen Staaten hergestellt werden. Anfängliche Probleme mit dem Duroplastmaterial – uneinheitliche Stoffzusammensetzung, schlechte Lackierbarkeit, hoher Verschleiß der Presswerkzeuge – ließen sich noch während des Serienanlaufs beheben. Und so kann am 10. Juni 1958 die Serienpro duktion des „Trabant“ beginnen.
Der Trabant ist im Nachhinein mehr als ein Personenkraftwagen. Nach der Wende entwickelt sich der „Trabi“, der auch im Westen anfänglich als fortschrittlich galt, geradezu zu einem technischen Fossil, zu einem Symbol für ein gescheitertes System. Er verkörpert eine DDR-Wirtschaft, die gekennzeichnet ist durch unzureichende Produktionsmittel, mangelnde Baukapazitäten, abgeriebene Maschinen und fehlende finanzielle Mittel. Wie kein anderes technisches Produkt verdeutlicht der Trabant und das für ihn benötigte Treibstoffgemisch bis heute die vielen Faktoren der Wachstumsbegrenzung und Innovationshemmung in der Deutschen Demokratischen Republik. Das kleine Auto wird aber für viele Menschen auch zum „Kultauto“ des Überdrusses an der technischen Perfektion.
3. Automation und Telekommunikation
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eben Atomkraft und Massenmobilität ist die „Automation“ ein Kernbereich dessen, was in der Nachkriegszeit in Gesamtdeutschland als „zweite industrielle Revolution“ angesehen wird. Das Ziel bei der Automation ist es, die Arbeit von Menschen auf elektronisch gelenkte Maschinen zu übertragen. Auch wird durch neue Techniken der Telekommunikation und der elektronischen Datenverarbeitung eine grundlegende Veränderung der Prozessautomation erwartet. Es bestehen in den fünfziger und sechziger Jahren sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR große Zukunftserwartungen über die Möglichkeit, Maschinen herzustellen, die selbstständig denken. Diese werden im Westen sowie im Osten oft geprägt von einer über der Realität schwebenden utopischen Vorstellung von neuen Technologien.
Die wissenschaftliche Forschung im Bereich der elektronischen Datenverarbeitung ist in der Bundesrepublik unmittelbar nach dem Krieg gut entwickelt. So gibt es zum Beispiel erfolgreiche, allerdings von den USA genutzte, Forschung auf dem Gebiet der magnetischen Speichertechnologie. An den Hochschulen wird in beachtlichem Umfang Rechnerentwicklung betrieben. In der gesamten Bundesrepublik „rattern“ 1966 etwa 3.000 Computer. Damit steht West-Deutschland gleich hinter den USA.
Ausgehend von Konrad Zuses „Plankalkül“ entsteht ein großer Ideenreichtum bei der Entwicklung von Programmiersprachen. Es werden logisch strukturierte und nach strikt semantischen Regeln aufgestellte Computersprachen entwickelt. Von Computerpionieren wie Heinz Zemanek werden diese viel höher eingestuft als die, oftmals durch Versuch-und-Irrtum entwickelten, amerikanischen Ansätze.
Allerdings schaffen deutsche Hersteller von Rechnerapparaturen, wie Zuse, Standard Elektrik Lorenz, Siemens oder Telefunken es nicht, einen ausreichenden Marktanteil bei kommerziellen Rechnern zu bekommen. Trotz enormer staatlicher Förderungsmaßnahmen und Forschungsmittel bleibt IBM jahrzehntelang unangefochtener Marktführer. Erst als die Computerhersteller sich auf die charakteristischen Probleme der mittelständischen Maschinenbauer und der Industrie in Deutschland konzentrieren, entsteht ein erfolgreicher deutscher Sonderweg in der Datentechnik: die Kombination von Elektronik und konventioneller Präzisionstechnik im Maschinenbau.
Die gesellschaftlichen Probleme des Datenschutzes sind in der frühen Phase der Datentechnik sicherlich kaum erkennbar gewesen. Der Schwerpunkt liegt in der Automatisierung numerischer Berechnungen. Selbst als in den sechziger Jahren in der Bundesrepublik öffentliche Verwaltungen und große Betriebe beginnen, ihre personenbezogenen Daten von Karteikarten in Magnetbanddateien zu überführen, ist dies lediglich eine Automatisierung bestehender Vorgänge. Die Datentechnik wird als „Rationalisierung“ bezeichnet und zielt auf weitere Verminderung des Verwaltungskostenanteils. Erst als in den siebziger Jahren große Unternehmen sowie Polizei und Bundeskriminalamt anfangen Personendatensysteme aufzubauen, die es ermöglichen, auf große Mengen Einzeldaten zuzugreifen und diese nach unterschiedlichen Gesichtspunkten zu verknüpfen, entsteht in der bundesdeutschen Gesellschaft eine Sensibilität für die Belange des Datenschutzes.
Als eine der ersten Nationen der Welt verabschiedet 1978 die Bundesrepublik ein entsprechendes Gesetz, das Bundesdatenschutzgesetz. Es regelt die Datenerhebung, die Datenverarbeitung und die Datennutzung. Die massiven Proteste in der Bundesrepublik 1987 gegen die Volkszählung münden sieben Jahre später in eine neue Fassung des Bundesdatenschutzgesetzes, in der das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zum Grundrecht eines jeden Bürgers erklärt wird. Dieses Gesetz hat weitreichende gesellschaftliche Auswirkungen auf technische Vorgänge wie das Speichern, Verändern, Übermitteln, Sperren und Löschen von personenbezogenen Daten. Viele der deutschen Datenschutzvorschriften werden international als vorbildlich angesehen und fließen 1995 in die europäische Datenschutzrichtlinie ein.
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ie DDR hat nach dem Zweiten Weltkrieg im Vergleich zur Bundesrepublik relativ gute Ausgangsbedingungen für den Aufbau einer eigenständigen Industrie für Automation und elektronische Datenverarbeitung. Denn in den Städten Dresden, Jena, Ilmenau und Chemnitz befinden sich die traditionsreichen Betriebe der Rechenund Büromaschinenindustrie. Die Arbeit in diesem Bereich wird unter dem Begriff „Kybernetik“ verbunden mit großen Zukunftsvisionen. Seit Norbert Wiener 1961 die Kybernetik als „Mittel zur Kontrollierung im Tier sowie in der Maschine“ beschrieben hatte, wird der Begriff in der DDR als allgemein gültig für die Effizienzsteigerung der Planwirtschaft aufgefasst. Die Kybernetik soll, gewappnet mit Halbleitertechnik und „Elektronikgehirnen“ weitreichende Rationalisierungseffekte in der Planwirtschaft erzielen.
Die Entwicklung der staatlichen Computerindustrie wird unter Leitung des „Staatssekretariats für Datenverarbeitung“ vorangetrieben. In der DDR wird ein umfassenderes System zur Ausbildung von Ingenieuren für Informationsverarbeitung geschaffen als in der Bundesrepublik. In der Tradition marxistischleninistischer Wissenschaftsund Technikgläubigkeit kultiviert man vor allem im Bereich der Datenverarbeitung eine auf Wissenschaft basierte Technik. So spielt die DDR im Jahr 1969 eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung eines einheitlichen Systems für Soft- und Hardware, das von vielen osteuropäischen Länder gemeinsam genutzt werden soll. Es sind über 20.000 Wissenschaftler und Konstrukteure sowie 300.000 Arbeitnehmer in über 70 verschiedenen Werken an dem Projekt beteiligt. Das von der Beschäftigungszahl nach größte Kombinat der DDR, das in Dresden gelegene „Robotron“, entwickelt Rechner, die über in Eigenregie entwickelte Mikroprozessoren und Speicherbausteine verfügen. Trotz aller praktisch-technischen Defizite in der DDR – die Hardware weist meist einen Rückstand von etwa zehn Jahren gegenüber dem Westen auf steht die Forschung im Bereich der Informatik auf sehr hohem fachlichen Niveau.
Was das Thema Speicherung personenbezogener Daten betrifft, so folgt die DDR technisch gesehen Entwicklungen in der Bundesrepublik. So wird etwa zeitgleich mit der Planung des Bundesdatenbanknetzes mit der Entwicklung einer “Personenkennzahl” (PKZ) begonnen. Ab 1971 wird sukzessive an alle Bürger der DDR diese PKZ ausgegeben. Eine zentrale Datenbank wird 1984 offiziell in Betrieb genommen. Die Daten werden in Berlin-Biesdorf in einem Datenbestand gelagert, der auf etwa 500 Wechselplatten, 12.000 Magnetbändern und einer großen Menge von Disketten gespeichert ist. Über generelle personenbezogene Daten hinaus werden auch sogenannte “Projektierungs-Dateien” angelegt.
Darin werden Kriminalfälle, Anzeigen und Feuerwehreinsätze, Verkehrsunfälle und Reichsbahnhavarien, Blutalkoholuntersuchungen und medizinische Behandlungen, Strafprozesse und Strafgefangene sowie Auslandsreisen und Ausreiseanträge automatisiert abgelegt. Mit solchen Daten wird das von der Deutschen Volkspolizei genutzte Fahndungssystem „Dora“ – ein Kürzel für „Dialogorientiertes Recherche und Auskunftssystem über Personen und Sachen“ – gespeist.
In Berlin-Biesdorf sind auch Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit angesiedelt. Es bestehen hochwertige Übertragungsleitungen zu den Zentralrechnern des MfS. Die Biesdorfer Rechenzentrale ist somit ein wichtiger Bestandteil des Datenverbundnetzes, mit dem die Sicherheitsbehörden der DDR ihre Vision eines “gläsernen Menschen” verwirklichen.
4. Gesundheit
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s gibt kaum einen Bereich, in dem Wissenschaft, Technik und Gesellschaft sich nachdrücklicher berühren, als den der Medizin. Entwicklungen in der medizinischen Forschung führen zu Schritten in der Entwicklung der Medizintechnik, diese führen wiederum zu entscheidenden Fortschritten der medizinischen Versorgung, und darauf folgen im allgemeinen Verbesserungen der Lebensbedingungen.
In der Bundesrepublik zeichnen sich nach 1949 vier wichtige Entwicklungslinien ab: Die Produktion antibakterieller und antiviraler Medikamente, die Entwicklung neuer Methoden zur Empfängnisverhütung, eine sprunghafte Verbesserung der Diagnostik und die Entstehung der Gentechnik.
Antibiotika stehen erst um 1950 in ausreichenden Mengen zur Verfügung. Erster Hersteller von Penicillin ist die neu gegründete pharmazeutische Firma Chemie Grünenthal in Stolberg; es folgen Hoechst und Bayer als Teilfirmen der – wegen schwerer Kriegsverbrechen aufgelösten – I.G. Farbenindustrie AG. Gleich in der Frühphase werden hier bedeutende Verfahrensfortschritte entwickelt und eingesetzt.
Was die Virenerkrankungen betrifft, so verbreitet sich paradoxerweise durch den verbesserten Hygienestatus nach dem Zweiten Weltkrieg geradezu epidemisch die Poliomyelitis, die gefürchtete „Kinderlähmung“. Bis zur Einführung der Schluckimpfung in den Impfplan für Kleinkinder Mitte der sechziger Jahre steigt die Zahl der Polio-Erkrankungen in Wellen im Abstand von vier bis fünf Jahren stetig an. Dabei ist die Entwicklung eines Impfstoffes gegen diese Schrecken erregende Seuche das klassische Beispiel für das Primat der Grundlagenforschung gegenüber der vorschnell forcierten Anwendung.
Im Streit um die Bekämpfung der Poliomyelitis nämlich stehen sich in den zwei Parteien gegenüber: die eine wollen die „Eisernen Lungen“ für Patienten mit Atemmuskellähmung perfektionieren, die Grundlagenforscher aber wollen die verfügbaren Mittel in die Entwicklung eines Impfstoffes investieren. Letztere wissen sich im Deutschland der fünfziger Jahre, relativ problemlos durchzusetzen.
Bei der Antikonzeptionspille spielt die Forschung in Deutschland eine wichtige Rolle. Schon vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges war durch Untersuchungen an der Göttinger Universitäts-Frauenklinik die antikonzeptionelle Wirkung hoher Dosen des schwangerschaftserhaltenden Gelbkörperhormons Progesteron bekannt. Obwohl ethische und theologische Bedenken aufkommen, wird die „Antibabypille“ bereits Mitte der sechziger Jahre monatlich in einer Größenordnung von einer halben Million Packungen verkauft. Innerhalb von einem Jahrzehnt findet fast eine Halbierung der Geburtenrate in der Bundesrepublik statt. Auch
wenn dieser “Geburtenknick” nicht nur durch die Antibabypille verursacht wurde, ist sie doch eine medizinische Entwicklung, die für das individuelle und gesellschaftliche Leben in den Industrienationen eine immense Bedeutung hat.
In der Diagnostik macht eine deutsche Erfindung aus dem 19. Jahrhundert in der Nachkriegszeit eine faszinierende zweite Karriere: Mittels Röntgentechnik, in Kombination mit einer stark gewachsenen Rechnerleistung, gelingt es, anatomische Strukturen im menschlichen Körper mit bisher unerreichter Klarheit darzustellen. Ähnlich rasante rechnergestützte Entwicklungen finden im Bereich der Kernspintomographie, der Auswertung von Laborbefunden und in der Gehirnforschung statt. In all diesen Bereichen nehmen Forschungsergebnisse und Technologien aus der Bundesrepublik eine international führende Rolle ein. Ab Mitte der siebziger Jahre entstehen gesellschaftliche und politische Fragen über die wachsenden Kosten der „Apparatemedizin“.
Die seit den fünfziger Jahren – als Anwendungsform der sich rasant entwickelnden Molekularbiologie – stark geförderte Gentechnik spielt ebenfalls eine wichtige Rolle in der medizinischen Diagnostik. Oft geht es dabei um die Frühdiagnose erblicher Krankheiten, insbesondere in der Pränataldiagnostik und Reproduktionsmedizin. Da einmal diagnostizierte genetische Veränderungen für die Betroffenen weitreichende Konsequenzen haben können, werden zunehmend ethische und moralische Argumente hörbar.
Auch bei der Herstellung von Medikamenten spielt die Gentechnologie eine Schlüsselrolle: Dem Aachener Chemiker Helmut Zahn gelingt 1963 die erste Synthese von Insulin. Allerdings ist die Gentechnologie gesellschaftlich nicht unumstritten. In den achtziger Jahren entsteht eine breite öffentliche Debatte um die Ambivalenz der medizinische Forschung im Bereich der Gentechnik: international nehmen Hans Jonas und Jürgen Habermas führende Rollen in dieser Debatte ein. Beide sind der Meinung, dass das neue Wissen nicht länger neue Antworten auf alte und bekannte Fragen gibt, sondern dass es die Menschheit vor Fragen stellt, die bisher völlig unbekannt waren.
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as Gesundheitswesen der DDR wird bestimmt durch die massive „Republikflucht“ von Ärzten, Zahnärzten, Apothekern und anderen Mitarbeitern im Gesundheitsbereich. Dieser Weggang bleibt bis zur Wende eines der größten Probleme der Gesundheitsversorgung in Ostdeutschland. Auch nachdem 1954 in Dresden, Erfurt und Magdeburg medizinische Akademien gegründet werden, bleibt es notwendig, Tausende von Ärzten aus kommunistischen Ländern, vor allem Bulgarien, zu holen. Denn das Gesundheitswesen wird von der SED-Führung als ein „Aushängeschild“ des real existierenden Sozialismus gesehen.
Insgesamt entwickeln sich Wissenschaft und Forschung im Gesundheitswesen der DDR als praxisnaher Bereich, der durch sechs Grundprinzipien bestimmt wird: Staatlichkeit, Planmäßigkeit, allgemeine Zugänglichkeit, prophylaktische Orientierung, Öffentlichkeit. Was die Entwicklung der Impfungen betrifft, so stellen sich diese Grundprinzipien im Vergleich zur Bundesrepublik als Vorteil bei der Bekämpfung von Epidemien wie der Kinderlähmung heraus. Die Zahl der Neuerkrankungen in der DDR geht schon Ende der fünfziger Jahre durch konsequent angewandte prophylaktische Impfung deutlich schneller zurück als in der BRD.
Bei der Antikonzeption ist man in der DDR anfänglich optimistischer als in der Bundesrepublik. 1972 nimmt die DDR ein weltweit fortschrittliches Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft an. Durch die extrem schwache Besetzung von Kriegsund Nachkriegsjahrgängen, überproportionalen Männerverlust durch die Fluchtbewegung bis 1961 und das Absinken der Heiratshäufigkeit auf ein Minimum im Jahr 1967 wird die „Pille“ Teil einer sexuell relativ aufgeschlossenen und familienfreundlichen Gesellschaftsplanung. Zusammen mit einem fortschrittlichen Netzwerk für Kindertagesbetreuung und Ganztagsschulen wird es Frauen, auch neben der Arbeit, ermöglicht, Kinder zu bekommen. Dies soll die Arbeitskraft der Frauen im Produktionsbereich sicherstellen und auch die demographische Entwicklung in der DDR in die gewünschte Richtung regulieren.
Ende der siebziger Jahre bleibt in der DDR eine sprunghafte Verbesserung der Diagnostik, so wie sie im Westen stattfindet, aus. Die Entwicklung und Anschaffung von Ultraschalltechniken, Bestrahlungseinrichtungen, Computertomographie und dergleichen wird nur unzureichend realisiert.
Dies führt dazu, dass die im Westen aufkommende „Apparatemedizin“ in der DDR sich nicht verbreitet. Stattdessen entsteht ein dichtes Netz spezieller Einrichtungen, um unter Einbeziehung der Bevölkerung Impfungen, Prävention in Form von Sport- und Freizeiteinrichtungen, Gesundheitsschutz von Mutter und Kind, von Jugendlichen und Arbeitern in den Betrieben anbieten zu können.
Eine Schlüsselrolle übernahmen im System der DDR die Allgemeinärzte, die für medizinische Behandlung, Prophylaxe und soziale Betreuung der Bevölkerung zuständig sind. Dieses Modell, wie es auch in einigen westlichen Ländern, wie beispielsweise in den Niederlanden, eingeführt wurde, sorgt dafür, dass die Kosten des Gesundheitswesens in der DDR pro Kopf einige Größenordnungen unter denen in der Bundesrepublik lagen. Somit erhielten in der DDR alle Bürger ein Recht auf kostenlose Gesundheitsversorgung.
5. Umwelt
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issenschaft, Technik und Gesellschaft berühren sich tiefgreifend in allen Bereichen, die mit den unmittelbaren und späten Folgen von menschlichem Handeln auf die Umwelt zu tun haben. So auch in Deutschland. Schon 1956 stellt man im Bundestag fest, dass „die Frage Wasser genau so wichtig wie die Frage Atom“ sei. Daraufhin wird die Wasserkompetenz dem gerade gegründeten Atomministerium zugewiesen: Atomund Wasserpolitik werden als dringliche, in der Bundespolitik noch nicht etablierte Bereiche der Zukunftsvorsorge angesehen. Es folgen Maßnahmen zum Wasserschutz, mit denen es tatsächlich gelingt, die Flüsse sauberer zu machen. Auch erklärt man die ersten Waldgebiete zu Nationalparks.
Allerdings wachsen die Umweltprobleme stärker als das Problembewusstsein. Eine schnell expandierende Industrialisierung führt zu weitgehend unsichtbar bleibenden Verschmutzungen von Luft, Wasser und Boden – so nimmt die auf lange Zeit irreversible Belastung des Grundwassers zu. Auch führen die Verordnungen, die seit den sechziger Jahren Schornsteine mit Höhen von 150 bis 200 Metern vorschreiben, dazu, dass die rasant angestiegenen industriellen Abgase großflächig verteilt werden und so erhebliche Waldschäden verursachen. Zwar wird das Insektizid „DDT“ Anfang der siebziger Jahre für den Gebrauch in der Bundesrepublik verboten, aber die Produktion und Anwendung von Pflanzenschutzmitteln generell nimmt schnell zu. Die Bundesrepublik wächst gar zum größten Pflanzenschutzmittelexporteur der Welt an. Auch der Gebrauch von Chlor in der Kunststoffproduktion steigt an – so wächst zum Beispiel der Chlorbedarf eines der größten chemischen Werke im Ruhrgebiet zwischen 1940 und 1977 um das Fünfzigfache.
In den siebziger Jahren findet allerdings allmählich eine ökologische „Epochenwende“ statt: Luftmessungen in verschiedenen Städten Deutschlands weisen in den siebziger Jahren aus, dass der Verbrennungsmotor der Automobile Luftverschmutzer Nummer eins ist: Teilweise entstehen die Hälfte aller Stickoxide, Kohlenmonoxid und Kohlenwasserstoffe im PKW-Verkehr. Nach amerikanischem Vorbild entstehen daher vermehrt Bürgerinitiativen und politische Gruppierungen zu Naturschutz und Lebensreform, es folgen kommunale Widerstände gegen Umwelt- und Lärmbelästigungen. Dies führt zur Entwicklung der wohl bedeutendsten Innovation der Fahrzeugtechnik nach 1945: dem geregelten Dreiwegekatalysator. Nachdem Volvo ihn in den USA einführt, nimmt auch die deutsche Autoindustrie bei der Entwicklung des Dreiwegekatalysators eine internationale Vorreiterrolle ein. Wichtig dabei ist, neben der Wahl der Katalysatormaterialien, die regelungstechnische Beherrschung einer genauen Einstellung des Verhältnisses von Luft und Kraftstoff, die nur gelingt mit einem elektronischen Regelwerk im Auto. Somit ist die Entwicklung des geregelten Dreiwegkatalysators ein erfolgreiches Beispiel für das Zusammenspiel von Forschung und Entwicklung in sowohl der Automobilals auch der Automationsindustrie.
Generell nimmt Deutschland in der Umweltforschung international von den achtziger Jahren an eine international beachtete Rolle ein. So finden am Max-PlanckInstitut für Chemie in Mainz die grundlegenden Forschungsarbeiten statt, die erklären, wie Stickoxide die Ozon-Schicht der Erde abbauen. Das neue Wissen identifiziert den Gebrauch von Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW) als eine der Ursachen für die Zerstörung der Ozonschicht. Daraufhin verpflichten sich viele Staaten zur drastischen Reduktion bei der Herstellung von FCKW.
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n der DDR-Führung herrscht das Selbstverständnis, dass die Ökonomie absoluten Vorrang vor der Ökologie hat. Dies führt dazu, dass es in den offiziellen Darstellungen nur im geringen Umfang Umweltprobleme gibt. Die DDR-Bürger kennen Smog, Waldsterben und sauren Regen hauptsächlich aus dem Westfernsehen. Jedoch fordern Monopolbildung, Autarkiebestreben, Versuche in der Grundstoffindustrie Exporterfolge vorzuweisen und veraltete Anlagen ihren Umwelt-Zoll: Die DDR erreicht in den achtziger Jahren Weltspitze bei der Emission von Schadstoffen in die Luft. Hauptursache für die Luftbelastung sind der fast vollständig auf Braunkohle basierende Energiesektor und die chemische Industrie.
Die Energieversorgung der DDR ist von Verschwendung geprägt: Dadurch, dass Wohnungen schlecht isoliert sind und nicht über Thermostate verfügen, Kraftwerke und das Stromversorgungsnetz einen schlechten Wirkungsgrad haben und in der Industrie – wo die Hälfte aller Endenergie verbraucht wird – veraltete Anlagen in Betrieb sind, verschwindet ein Großteil der Braunkohle ungenutzt. Der niedrige Wirkungsgrad der gesamten Energieumwandlung in der DDR wird noch dadurch verschlechtert, dass Braunkohle energietechnisch nicht sehr ergiebig ist und mehrfach umgewandelt werden muss.
Das Grundproblem der chemischen Industrie der DDR ist der überproportionale Anteil der Grundstoffchemie und insbesondere die Erzeugung flüssiger Produkte aus Kohle: die Karbochemie. Von den Hunderten Millionen Tonnen Braunkohle, die pro Jahr in der DDR verwendet werden, kommen mehr als zehn Prozent in der Produktion chemischer Grundstoffe zum Einsatz. Dort werden unter Verwendung von Salz, Gips, Kalk und Ton Grundchemikalien wie Ammoniak, Phenol und Methanol produziert. Für diese Art der Chemie ist die DDR in den Augen der SED-Führung prädestiniert. Im November 1958 tagt die Chemiekonferenz des Zentralkomitees der DDR unter der Devise: „Chemie gibt Brot – Wohlstand – Schönheit“.
Dadurch, dass die standardisierte Massenproduktion im Osten sich viel ungehemmter durchsetzen kann als in der Bundesrepublik, finden sich in Europa nirgendwo mehr Schwefel- und Stickstoffoxide, Staub und Kohlenwasserstoffe in der Luft als in der Deutschen Demokratischen Republik. Allerdings werden auch in den siebziger Jahren in der DDR, genauso wie in der Bundesrepublik, Reservate in Form von Natur- und Landschaftsschutzgebieten eingerichtet. Das größte der Naturschutzgebiete ist das „Ostufer der Müritz“. Relativ große Reservate liegen in den Mittelgebirgen, wie beispielsweise der „Brocken-Oberharz“. Kurzzeitig glaubt man gar mit der zentralen Planwirtschaft in der Umweltpolitik eine besondere Chance zu haben; zumindest versucht die DDR sich auf dem Umweltgipfel in Stockholm als umweltbewusster Staat zu profilieren. Allerdings verschwinden die Umweltpläne schnell wieder, insbesondere wegen der allesumfassenden Verwendung von Braunkohle.
Trotz der offensichtlichen Umweltbelastungen entstehen in der DDR nur punktuell Bürgerinitiativen für den Umweltschutz. Denn die Umweltbewegung ist illegal. Erlaubt sind nur Bürgerinitiativen, die zu örtlichen und regionalen Problemen des Umweltschutzes etwas beizutragen versuchen. Naturschutz soll vor allem auf den Erhalt der natürlichen Umwelt des Menschen gerichtet sein. Es geht dabei um die Gestaltung und Pflege der Landschaft durch das Schaffen von Erholungsgebieten und um Park- und Grünanlagen in dicht besiedelten Regionen. Eine politische Dimension hat die Arbeit der „Gesellschaft für Natur und Umwelt“ nicht; erst in der letzten DDR-Phase wurden mit den „Arbeitsgemeinschaften Stadtökologie“ Umweltprobleme nicht mehr nur innerhalb kleiner Kreise diskutiert.
Trotz der in vieler Hinsicht katastrophalen Umweltsituation in der DDR ist man im Osten Deutschlands in einigen Bereichen dem bundesdeutschen Standard überlegen. Bei der Energieversorgung ist die Fernwärmenutzung in der DDR erheblich weiterentwickelt als in der Bundesrepublik. Weiterhin spielen in der DDR die öffentlichen Verkehrsmittel im Nah- und Fernverkehr eine weit größere Rolle als in der Bundesrepublik. Dies gilt neben dem Personenverkehr besonders für den Binnen-Güterverkehr. Während die Transportleistung der Bundesbahn in Westdeutschland bei etwa 25 Prozent des Güterverkehrs liegt, beträgt diese in der DDR etwa 80 Prozent. Auch hat die DDR, durch einen hohen Grad der Wiederverwertung von Abfällen, ein generell erheblich geringeres Hausmüllaufkommen pro Einwohner als die BRD.
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2009, SYBE RISPENS science writing
Dieser Text ist erschienen als Teil des Wissenschaftsjahrs 2009, "Forschungsexpedition Wissenschaft", im Auftrag vom
Bundesministerium für Bildung und Forschung.